Miss You

Miss You

miss you
miss you – Nachricht vom Jule
Spätsommer 2017 an einem Nachmittag in Frankfurt.

Ich saß auf einer Bank am Bahnsteig im Frankfurter Südbahnhof und wartete auf meinen Zug. Es war noch reichlich Zeit bis zur Abfahrt. Da zur gleichen Zeit noch Markt war, entschloss ich mich mir dort eine Kleinigkeit zum Essen zu holen. Beim Durchqueren der Bahnhofshalle stieß ich mit meinem Fuß gegen etwas Weiches. Es kullerte ein Stück weiter, blieb liegen und ich sah, dass es ein Stofftier war.
Ich hob es auf. Eine Art Hund, muss erst vor kurzem verloren gegangen sein, denn es waren keine Schmutzspuren zu entdecken.
Ich schaute mich um, ging nach draußen, schaut dort nach einem Kind was weinte oder traurig war, aber nichts dergleichen. Ich ging wieder rein – auch dort keine traurige Seele. Sollte ich es abgeben? Mein Blick ging zum Fahrkartenschalter, dann zu dem weißen Plüsch. Die Entscheidung fiel.

 

Miss you

Der Sommer verabschiedete sich und der Herbst zog ins Land. Und mit dem Herbst führte mich mein Weg zu einem Lehrgang in das Waldschlösschen – mit dem Stofftier. Dort lernte ich Lun kennen. Und am Sonntag, an dem Tag, an dem der erste Teil des Lehrganges zu Ende ging, wir einander verabschiedeten, drückte ich Lun das Stofftier in die Hand. „Braucht eine Luftveränderung“ mein Hinweis auf ihren fragenden Blick. Lun betrachte das kuschelige Etwas: „Namenlos?“ Ich nickte. „Wir finden einen.“


Nachricht von Jule "miss you"
Am 24.10.2017 bekam das weiße Plüsch in Kassel seinen Namen.



Kurz darauf bekam in Kassel das kleine Kuscheltier von Susanne seinen Namen. „Jule“ heißt es nun, ist genderfluid und sein Pronomen ist „es“.

Genderfluid zu sein heißt, dass eins nicht immer das gleiche Geschlecht hat, sondern immer wieder ein anderes.

Wie die Winde wehen, so das Geschlecht – sinngemäß. Jule blieb viele Monde bei Lun. Es kamen die düsteren Tage, wo das Seelenwasser zu fließen begann. Beim letzten Telefonat bat ich Lun, mir Jule zuzuschicken, damit ich im Krankenhaus etwas habe, um wieder aufzustehen. Ich hätte Jule gerne selbst abgeholt, aber Lun wollte nicht. In einem kleinen gepolsterten Briefumschlag kam Jule mit der Post.

Aber es kam nicht nur Jule per Post. Die anderen Pakete stehen seitdem im Keller, ungeöffnet, so verpackt, wie Lun sie auf Reisen schickte. Ich glaube, ich hätte keine 15 Sekunden Mut gebraucht, hätte ich sie geöffnet, und wäre den letzten Weg gegangen. Heute will ich sie nicht mehr öffnen, denn es würde mir nicht guttun. Sagt mein inneres Ich, das sich vehement dagegen stemmt, wenn ich mit dem Gedanken spiele, sie doch zu öffnen.


Eine queere Freundschaft

Jule hat Gesellschaft bekommen. Nach einem Wochenende in Kassel reiste ein kleiner Waschbär von Kassel mit nach Offenbach.




Und da er bis vor kurzem ohne Namen war, hat Jule überlegt, wie der kleine Waschbär denn heißen könnte. Eines Morgens ließ Jule mich wissen, dass der Waschbär Robyn heißt und zu Yosh gehört (auch Waschbär, lebt bei Lun). Robyn ist genderqueer – sagt Jule. Und, wenn Jule das so sagt, hängen ja immer zusammen, dann ist dem wohl so.
Hin und wieder nehme ich beide mit, erst recht, wenn ich nach Kassel fahre. Sie vermissen Lun, wie ich auch. Sie malen “miss you” auf ihr Bild und nerven, damit es wieder nach Kassel geht.

Gerade heute, wo Lun Geburtstag hat, wären wir alle gerne zusammen nach Kassel gefahren, hätten zusammen mit den grünen Botschaftern des Habichtswald Lun einen Schmetterlingsgruß geschickt.

Hat nicht sollen sein. Ich muss wieder zum Arzt und allein will ich die Beiden nicht auf Reise schicken. Die sehe ich sonst nie wieder. Ein andermal. Im Frühjahr vielleicht, wenn die Winde es mit den Heilgeistern wollen, die Züge nicht durch Stillstand glänzen, der Lockdown vorbei und die Cafés geöffnet haben.



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